Montag, 8. Juli 2019

8. Juli 2015

Der Tag, an dem Donald endgültig die Macht ergriff.

Es war Mittwoch. Und ich hatte einen Termin. Wie immer mittwochs seit einigen Monaten, sollte ich um die Mittagszeit im Büro in Herbolzheim Besuch von meiner Ergotherapeutin bekommen. Unsere Nachbarschaft zur Praxis Zahoransky-Gorenflo erwies sich hier als großer Vorteil.
Als ich aufwachte, war das einer meiner ersten Gedanken: "Denk an die Ergo, Frau Schächtele, die will heute kommen. Oder hab' ich den Termin etwa schon verpasst? Wo bin ich überhaupt, wie viel Uhr ist es? Warum kann ich nicht reden?"

Donalds Machtergreifung war nichts Überraschendes, was mir allerdings erst in der Nachbetrachtung klar wurde. Über Tage, Wochen, sogar Monate hatte sie sich angekündigt. Unendliche Müdigkeit tagsüber und kein erholsamer Schlaf in albtraumreichen und schweißgebadeten Nächten. Kurzatmigkeit bis hin zu kurzen Atemaussetzern im Bett in Rückenlage. Drehen im Bett nur noch einseitig. Umsitzen nur noch mit Martinas oder anderer Hilfe: Rollstuhl - Treppenlift und zurück, Rollstuhl - WC und zurück, Bett - Rollstuhl und zurück. Die Kontrolle der Kopfhaltung entglitt mir zusehends. 
Letzteres, in Verbindung mit der ewigen Müdigkeit, sorgte schließlich dafür, dass ich 12 Tage vor dem 8. Juli, am 26. Juni also, letztmals mein Auto "normal" fahren konnte. Wobei, normal war das längst nicht mehr, wenn in Kurven mein Kopf mehr oder weniger unkontrolliert vor oder zurück oder zur Seite fiel und ich teilweise regelrecht im Blindflug unterwegs war. Glücklicherweise ist nie was passiert, anderen nicht und mir auch nicht.
In den folgenden Tagen ließ ich mich zur Arbeit nach Herbolzheim chauffieren. Ein oder zwei Tage blieb ich zuhause, wenn ich schon am Morgen total gerädert und am Ende und nicht fähig war, zu arbeiten. Die große sommerliche Hitze in diesen Wochen, hatte zusätzlich zu Donald einen nicht unwesentlichen Anteil an meinem desolaten Zustand.
Allerdings war der Tiefpunkt noch gar nicht erreicht. Der nächste Schritt, der in der Abwärtsspirale folgte, war der Knick in der Optik. Was sag' ich, das war die Mutter aller Knicke, die eine Optik jemals überhaupt haben kann. Total surreal: Alles was ich sah, bekam eine Neigung verpasst. Das heißt, schaute ich zum Beispiel aus dem Auto raus, war alles (definitiv) vertikale um einige Grad nach links geneigt. Im selben Maß stieg (definitiv) topfebenes Gelände in meinen rechten Blickfeld leicht an, im linken Blickfeld fiel es ab. Ich wusste, was ich sehen musste, raus kamen aber ganz andere Bilder. Nur zur Sicherheit, Drogen waren keine im Spiel.
Neue Sichtweisen, die Dinge mal von anderer Warte aus betrachten, alles schön und recht, aber ändert sich der Blickwinkel derart wörtlich, bleibe ich lieber bei dem, was ich kenne. Nie mehr will ich so etwas erleben.

An diesem heißen Juli-Morgen lag ich also mal wieder total gerädert, halb wach, halb schlafend im Bett. Es dürfte zwischen fünf und halb sechs Uhr morgens gewesen sein, als Martina, die schon aufgestanden war, mich fragte, ob ich arbeiten wollte. An die Frage kann ich mich dunkel erinnern, dass ich darauf antwortete auch noch, weiß aber nicht mehr, wie ich antwortete.
Was danach geschah, muss ich in der Abteilung Filmriss einordnen. Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, alles nun folgende hat man mir erzählt.
Nach Martinas Frage beschloss ich offensichtlich, nochmal einzuschlafen. Und zwar tiefer als zuvor. So tief allerdings, dass Martinas folgenden Versuche, mich zu wecken, allesamt scheiterten. Martina musste mich reanimieren! Und rettete mir somit mein Leben!
Das war bis dahin tatsächlich der Höhepunkt dessen, was Martina für mich getan hat. Leider sollte es nicht weniger werden. Bis heute. Ausreichend 'Danke' sagen für all das, wird mir kaum jemals gelingen. Trotzdem, als kleiner Anfang: Danke!
Der  zuvor schon von Martina gerufene Notarzt war schnell da, versorgte mich zusammen mit den Rettungssanitätern notfallmäßig und entschied, dass ich intubiert und beatmet werden sollte. Und er wollte auch seinen kleinen Beitrag dazu leisten, dass 2015 für die Feuerwehr March das Jahr wurde, mit den mit großem Abstand meisten Einsätzen. Denn entweder war der zu rettende Kerl zu groß oder das Treppenhaus zu eng, deshalb: Alarm für die Feuerwehr um 6:29 Uhr.

An dieser Stelle einmal ein großes Dankeschön den Damen und Herren  der Feuerwehr! Was den Verein Feuerwehr betrifft, kann ich schon auch mal kritisch sein, als Retter - Löscher - Berger - Helfer sind sie aber über jeden Zweifel erhaben.
Beim Notarzt bekam ich tatsächlich noch die Gelegenheit, mich persönlich für seine Hilfe zu bedanken, als wir ein Jahr später bei einer Familienfeier eingeladen waren, er dort zu einem Notfall gerufen wurde und meine Schwester Lucia sich an ihn erinnern konnte. Er wusste selbst sofort, welchen Fall sie meinte, nachdem Lucia ihn darauf angesprochen hatte. Für mich war das kurze Treffen sehr bewegend, aber auch für ihn. Bekommt er doch in den wenigsten Fällen eine Rückmeldung über die Schicksale seiner Notfallpatienten.
Auch Martinas und meine Geschwister waren an diesem 8. Juli, wie schon zuvor und danach, an meiner, unserer Seite und gaben ihre Unterstützung, wo sie konnten. Danke!

Der Krankentransport brachte mich in die Uniklinik Freiburg, dort zuerst in die Notfallambulanz, dann auf die Intensivstation der Inneren Medizin, im Laufe des Tages wurde ich verlegt auf die Neurologische Intensivstation.
Kleiner medizinischer Exkurs. Meine 2 größten Probleme waren Kollateralschäden von Donald: Eine schwere Lungenentzündung, verursacht durch häufiges Verschlucken von Essen und mangelhaftes Abhusten von Sekret sowie meine schlechte CO2-Bilanz, mein ganz persönlicher Klimawandel. Durch abnehmende Kraft meines Atemapparates konnte ich das CO2 nicht mehr im notwendigen Maße loswerden, die Lunge wurde immer schlechter durchlüftet, das CO2 tat etwas, was es nicht darf: es reicherte sich in der Lunge an, was letztlich für meine weiter oben näher beschriebenen Schwierigkeiten hauptverantwortlich war. Ich hatte quasi eine schleichende CO2-Vergiftung. Deshalb bin ich jetzt auch beatmet: Nicht weil ich ansonsten zu wenig Luft bzw. Sauerstoff hätte, wie gerne vermutet wird. Nein, das Beatmungsgerät deshalb, damit das CO2 stimmt, die Maschine übernimmt das, wozu mir die Kraft fehlt.
Der Notarzt sprach bei meinem unterirdisch schlechten CO2-Wert von einer eigentlich tödlichen Dosis, die nur deshalb ihre endgültig abschließende Wirkung bei mir verfehlte, weil ich mich ganz langsam, über einen langen Zeitraum, an das immer mehr werdende "Gift" gewöhnen konnte. CO2-Junkie halt.

Als ich schließlich aufwachte und meine Gedanken (s. oben) sortierte, war es später Nachmittag und ich lag in einem Bett der Neurologischen Intensivstation. Martina und Lucia lächelten mich an, als ich das Licht der Neurologie erblickte. Wie ich guckte, weiß ich nicht. Vermutlich erleichtert und froh darüber, in einer ziemlich seltsamen Situation, vertraute Menschen um mich herum zu sehen. Und weil Intubation nicht nur seltsam, sondern eine völlig neue Erfahrung war für mich, galt es auch erst zu kapieren, dass Sprache nicht ging.
Der Schlauch zur Beatmung wurde mir ein Tag darauf schon wieder gezogen und ich fand meine Sprache wieder. Allerdings nur, bis 2 Tage später die nächste Intubation als angemessen erachtet wurde. Meine Werte am Samstagabend machten es wohl erforderlich. 4 Tage blieb ich diesmal intubiert, 4 Tage hatte mein Plappermaul geschlossen. Nicht schön.

Was von 10 Tagen Intensivstation außerdem blieb, außer dass die Lungenentzündung auskuriert und die nicht-invasive Beatmung "eingerichtet" wurde:
- Das Ankommen am ersten Tag.
- Mein Platz am Fenster. An einem Riesenfenster, das jeden Sonnenstrahl einfing. Sonne gab es zur Genüge, die passende Juli-Hitze dazu musste ich mir vorstellen.
- Die Verlegung nach 10 Tagen nach Station Brehmer mit halb-intensivmedizinischer Betreuung.
- Die Farbkleckse an der Decke, die für mächtig Abwechslung sorgten und für dessen Entwurf ein Farbtherapeut o. ä. bestimmt richtig fett Tantiemen erhalten hat.
- Das Konzert der Alarmtöne meines Beatmungsgerätes im Zusammenspiel mit den Tönen der Geräte meiner Zimmernachbarn. Im Halbschlaf waren das gerne mal Trompeten, Hörner oder Posaunen.
- Der Respekt vor dem, was Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte hier leisten. Für mich persönlich nicht vorstellbar. Hut ab!
- "Schweinsteiger verlässt Bayern München und wechselt zu Manchester United!" war das Erste, was an Wichtigem aus der Außenwelt nach einigen Tagen wieder bis zu mir vordrang.
- Meine Zimmernachbarn. Einmal der mir gegenüber, der schon vor mir da war, 9 Tage lang keinen Besuch erhielt und kaum einen Mucks machte und am zehnten Tag aufgrund offensichtlich schwerer Komplikationen Heerscharen von Ärzten und Pflegern auf den Plan rief. Keine Ahnung, was aus ihm wurde? Zudem noch mein linker Nachbar für wenige Tage, ein älterer Herr, der mit nichts einverstanden war und deswegen stundenlang herum schrie und fluchte. Der Gesang zum Konzert  der Beatmungsgeräte. Er wurde auch zeitweise an sein Bett gefesselt, sonst hätte er gewiss versucht, aufzustehen und Reißaus zu nehmen.
- Die Versuche, meinen trockenen Mund mit nassen Wattestäbchen zu befeuchten. Trinken ging nicht bzw. traute man sich nicht.
- Das Highlight ohne Zweifel: Der Besuch von Lucas und Simon nach einer Woche. Ein Oberarzt hatte dringend davon abgeraten, Martina brachte die beiden trotzdem mit, weil's auch mein sehnlichster Wunsch war. Gefühlt alle Pfleger halfen mit, waren diese halbe Stunde irgendwie nur für uns da. Mit Stellwänden sorgten sie dafür, dass die Jungs nichts vom Elend meiner Zimmerkollegen mitbekamen, sondern sich ganz auf Paps konzentrieren konnten. Den schweigenden Paps mit Schläuchen in der Nase und im Arm und blinkenden Gerätschaften um sich rum, in dem Moment aber bestimmt auch der glücklichste Paps überhaupt. Mein Eindruck war, dass die Jungs auch eher Letzteres in ihrer Erinnerung haben, als die Maschinenmedizin einer Intensivstation.
Danke Martina.

Achso, den Termin Ergo verpasste ich übrigens, aber wie immer war Verlass auf mein Büro: Arbeitskollegin Gerlinde sagte den und bis auf Weiteres auch die folgenden Termine ab.

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