Donnerstag, 29. August 2019

Anmerkungen eines Betroffenen

"Wie es mir mit der ALS ergangen ist und ergeht, welche unvorstellbaren Herausforderungen an meine Familie und unser Umfeld gestellt werden, welche Freuden es dennoch geben kann. Und wie wir uns mit aller Kraft gegen die Folgen der ALS stemmen."
Davon will ich in diesem Blog erzählen, habe ich bei "Über mich" geschrieben.  Dabei sind Wiederholungen von Geschriebenem nicht angestrebt, aber auch nicht gänzlich zu vermeiden. 
Ganz bewusst wiederholen will ich mich dagegen beim Thema "Jens Spahn will mir mein Zuhause nehmen.", überlagert das aktuell doch grade alle meine anderen Themen.
Matern v. Marschalls Büro hat sich übrigens schon gemeldet bei mir, persönlich will er das tun nach Ende der Sommerpause. Schaumermal.
Achja, unterschreiben und teilen kann man weiterhin die online-Petition:
Lasst Pflegebedürftigen ihr Zuhause! Stoppt das Intensivpflegestärkungsgesetz


Hier mein Schreiben (mit Wiederholungen😊) an Jens Spahn, südbadische MdB im Verteiler

Martin Schweizer                                                                        March, 28.08.2019
Friedhofstraße 13
79232 March

Bundesgesundheitsministerium
11055 Berlin

Referentenentwurf „Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz – (RISG)“

Sehr geehrter Herr Bundesgesundheitsminister Spahn,

ich muss dringend etwas los werden, deshalb schreibe ich diesen Brief an Sie. Es würde mich freuen, wenn Sie, Herr Minister, dieses Schreiben auch vorgelegt bekommen und sich dann die Zeit nehmen könnten, es auch ganz zu lesen.

Mein Name ist Martin Schweizer. Ich muss damit leben, an der unheilbaren Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) erkrankt zu sein.
Doch leider ist das nicht alles, da die Folgen dieser fiesen Krankheit auch meine Familie betreffen. Meine Ehefrau Martina und unsere Söhne Lucas (12) und Simon (9). Und unser Umfeld.
Seit etwa 2 Wochen, als ich erstmals von Ihrem Referentenentwurf „Gesetz zur Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“ las, ist mein Päckchen, das ich zu tragen habe, auf einen Schlag noch einmal um einiges schwerer geworden.
Seit etwa 2 Wochen habe ich Angst.

Ob Sie die Krankheit ALS kennen, weiß ich nicht, gehe aber einfach mal davon aus.
Wie schon erwähnt: Ich leide an ALS. Volles Programm. Gelähmt im Rollstuhl und seit 4 Jahren beatmet. Bin komplett auf Hilfe angewiesen, betreut von meiner Frau und einem Intensivpflegedienst, 23 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Das ist eine riesige Herausforderung für alle, verbunden mit ganz viel Aufwand, ohne Frage.
Aber ich bin zuhause, kann direkt teilhaben am Leben meiner Familie, verfolge die Entwicklung meiner Kinder, tanke Kraft durch ihre Zuneigung, durch ihr für mich da sein. Unsere Familien und Freunde besuchen mich, ermöglichen mir - zusammen mit den Pflegekräften - Teilhabe auch außerhalb meiner 4 Wände. Auch das gibt mir Kraft.
Die Pflegekräfte, allesamt ohne Zweifel Fachleute auf dem Gebiet der Intensivpflege, haben Zeit für meine Pflege und können auf von mir geäußerte Wünsche eingehen. Die Verständigung ist mit mein größtes Problem, dafür haben wir aber Zeit, meine Worte, Sätze mit Hilfsmitteln zu erarbeiten. Eine Minute für ein Wort ist dabei keine Seltenheit. Es ist Zeit da, mit dem Patienten mal rauszugehen, mal einen Dialog mit mir oder meiner Familie außerhalb der Krankheit zu führen. Neudeutsch ist das eine win-win-Situation, von der am Ende alle profitieren.
Alles ganz anders als im Krankenhaus oder Pflegeheim, wenn Pflege gleich Arbeit im Akkord bedeutet.

Nun musste ich in Ihrem Gesetzentwurf unter anderem lesen:
„Außerklinische Intensivpflege soll in der Regel in stationären Pflegeeinrichtungen und spezialisierten Wohneinheiten erbracht werden. Auch hier gelten strenge Qualitätsstandards. In Ausnahmefällen besteht auch künftig ein Anspruch auf Intensivpflege in der eigenen Häuslichkeit, beispielsweise bei minderjährigen Kindern.“
Konsequenz für mich: Statt wie bisher in vertrauter Umgebung mit meiner Familie leben zu können, soll ich demnächst in einem Heim landen.
Das macht mir Angst! Große Angst.

Herr Spahn, gerne würde ich Ihnen vorschlagen, sich einmal in meine Lage zu versetzen: Gestraft zu sein mit ALS, gerne auch länger als auf eine Eiskübellänge. Dann stellen Sie sich bitte vor, aus Ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen und gegen Ihren Willen in ein Pflegeheim zwangsumgesiedelt zu werden. Ohne das, was Ihnen am wichtigsten ist, ohne Ihre Lieben. Und gewiss mit schlechterer Pflege. Wobei die Leute nicht schlechter pflegen, nein, wenn aber eine Pflegekraft dann wieder für 4 oder mehr Schwerstpflegebedürftige zuständig ist, bleiben zwangsläufig die Patienten auf der Strecke. Können Sie sich das vorstellen?

Ich hingegen stelle mir immer öfter vor:
Wenn ich im Heim wäre, müsste meine Frau die Dinge des Alltags, die ich aktuell noch beizusteuern imstande bin, dann auch noch erledigen?
Wenn ich im Heim wäre, dürfte meine Frau schlussendlich dann alle Hausaufgaben mit unseren Jungs ganz alleine durchgehen?
Wenn ich im Heim wäre, machte es für meinen ehemaligen Arbeitgeber dann überhaupt noch Sinn, sich technisch und logistisch dafür einzusetzen, dass ich zumindest einige wenige Stunden im Monat für ihn tätig sein kann? Dass ich kleinere Projekte erledigen kann, so wie es bis dato möglich ist?
Wenn ich all das nicht mehr machen könnte, was wäre meine Alternative im Heim? Selbstbestimmt TV gucken den ganzen Tag? Nase bohren oder Däumchen drehen geht leider nicht, ich habe ALS.
Wenn ich im Heim wäre, wer ginge mit mir zu Klassenfesten meiner Kinder, wo Papa endlich auch mal die Lehrer kennenlernt und stolze Söhne vorführen, was sie gelernt und vorbereitet haben?
Wenn ich im Heim wäre, wer ginge mit mir einfach mal so für 1 bis 2 Stunden raus? Raus in die Sonne, raus an die frische Luft? Wer setzt sich neben mich und teilt mir mir sein Schweigen?
Wenn ich im Heim wäre, wer ginge mit mir ins Thermalbad, wo ich mich im Wasser für kurze Zeit von meiner Gefangenschaft im eigenen Körper befreit fühlen kann?
Wenn ich im Heim wäre, wer ginge mit mir zum Konzert ‚meines‘ Musikvereines, bei dem ich mehr als 35 Jahre selbst trompetet habe?
Wenn ich im Heim wäre, dürfte ich dort Geburtstage feiern mit 100 Freunden einschließlich der Kapelle des Musikvereines?
Wenn ich im Heim wäre, was soll ich dann mit meiner Dauerkarte für den SC Freiburg machen?
Wenn ich im Heim wäre, wer würde mir bei einer Rundfahrt die Veränderungen in Dorf-. Stadt- und Landschaftsbild in meiner Heimat zeigen, etwas, das mich schon immer interessierte?

Was mir auch nicht aus dem Kopf geht: Die Frage, warum eigentlich die besten Intensivpflegekräfte den Krankenhäusern und Pflegeheimen mehr und mehr den Rücken kehren? Warum sie lieber in die 1:1-Pflege bei Pflegediensten gehen, Gehaltseinbußen eingeschlossen? Haben Sie dafür eine Erklärung?
Meine kurze und knappe Antwort: Immer weniger Pflegekräfte sind heute noch bereit, sich verheizen zu lassen. Mit Recht!
Und glauben Sie vor diesem Hintergrund wirklich, die kommen alle wieder zurück, wenn Pflegedienste erfolgreich im Sinne Ihres Gesetzentwurfes ‚bekämpft‘ sind? Als Antwort hier das Zitat einer meiner Pflegerinnen, ich befürchte exemplarisch: „Dann lieber Ikea!“

Ich schreibe hier immer nur von mir, bin aber der festen Überzeugung, dass der größte Teil meiner Leidensgenossen ohne Chance auf Beatmungs-Entwöhnung, Ihr Gesetzentwurf genauso fassungslos und wütend gemacht hat wie mich. Derlei Reaktionen sind vielfach im Internet zu ‚bewundern‘.
Stellvertretend für sehr viele Betroffenenverbände habe ich Stellungnahmen des VdK und der DGM angehängt und verlinkt. Der Tenor ist bei allen der Gleiche, er dürfte Ihnen auch nicht verborgen geblieben sein.
Erlauben Sie mir auch Hinweise auf unser Grundgesetz Artikel 3, Absatz 3 und auf Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, eigentlich jeweils mit deutlichen Aussagen zu diesem Thema. Beides ist diesem Schreiben ebenfalls angehängt. Sicherheitshalber.
Das alles brauchts aber eigentlich auch gar nicht. Vielleicht reden Sie einfach mal selbst mit Beatmungspatienten, die heute daheim gepflegt werden, einfach mal fragen: „Würdest du ins Heim gehen?“ Sie würden staunen, oder auch nicht, wie viele lieber tot wären.
Ich würde Ihnen antworten: „Seien Sie heute schon ganz herzlich eingeladen zum fröhlichen Stecker ziehen an dem Tag, wenn Jens Spahn mich aus meinem Zuhause raus schmeißt. Ins Heim geh ich nicht!“

Noch eine Anmerkung. Ich war, bis meine Krankheit es nicht mehr zuließ, einige Jahre in der Kommunalpolitik aktiv. Diese Zeit hat mich gelehrt, weniger bzw. nicht sofort auf Politiker zu schimpfen, ich will eigentlich immer zuerst von Kompetenz, Empathie und Gutem Willen der jeweiligen Person ausgehen, bevor ich lospoltere. Dieser Vorsatz wurde in den vergangenen Tagen allerdings auf eine harte Probe gestellt. Mal wieder. Leider mal wieder.

Was schlussendlich meine Forderung und Bitte als direkt Betroffener an Sie als verantwortlichen Minister betrifft, übernehme ich die Worte des VdK, weil ich es nicht treffender schreiben könnte:
Betroffene müssen ein Recht haben zu entscheiden, wo sie leben und gepflegt werden möchten. Die Menschenwürde, die Freiheit des Einzelnen und die Freizügigkeit sind unsere stärksten Grundrechte. Sie aus Kostengründen einzuschränken, wäre verfassungswidrig.
Ich fordere das Bundesgesundheitsministerium auf, hier nachzubessern und sicherzustellen, dass niemand gegen seinen Willen in ein Pflegeheim gehen muss.

Und ganz zum Schluss würde ich Sie gerne zu mir nach Hause einladen, damit Sie sich auch selbst ein Bild von meiner Situation, meinem Leben trotz Krankheit und meiner Pflege machen können. Vielleicht verstehen Sie mein Problem dann besser?

Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören!

Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung und verbleibe
mit freundliches Grüßen

Martin Schweizer




Anlagen


Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Artikel 19 UN-BRK Selbstbestimmte Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft
Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass
a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;
b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;
c) gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.





Auszug aus einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke vom 19.08.2019
(…) Aus Sicht der DGM fehlt in dem Gesetzentwurf der Blick auf Menschen mit einer neuromuskulären, insbesondere neurodegenerativen Erkrankung. Bei den über 800 verschiedenen Muskelerkrankungen gibt es zahlreiche Verläufe, die zwangsläufig zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Beatmung führen und bei denen keine Chance zu einer Entwöhnung besteht. Diese Menschen möchten die Möglichkeit, ein Leben in größtmöglicher Selbstbestimmung führen zu können, auch zukünftig in Anspruch nehmen. Die Wahlmöglichkeit der Versorgungsalternativen muss ohne bürokratische Hindernisse gegeben sein. Dazu braucht es sowohl Qualitätsstandards in Wohngruppen und stationären Wohnheimen als auch ausreichend ausgebildetes Intensivpflegepersonal für die häusliche Versorgung. Wir fordern den Gesetzgeber auf, medizinische Indikationen in den Gesetzesentwurf aufzunehmen, um den betreffenden Patienten die Möglichkeit der Heimbeatmung ohne bürokratische oder zeitliche Barrieren zu ermöglichen. Kosteneinsparungen dürfen nicht dazu führen, dass Menschen eine Versorgung mit Heimbeatmung abgesprochen wird.


Auszug aus einer Pressemitteilung der Sozialverbandes VdK vom 21.08.2019
(…) „Betroffene müssen ein Recht haben zu entscheiden, wo sie leben und gepflegt werden möchten. Die Menschenwürde, die Freiheit des Einzelnen und die Freizügigkeit sind unsere stärksten Grundrechte. Sie aus Kostengründen einzuschränken, wäre verfassungswidrig“, mahnt VdK-Präsidentin Verena Bentele. „Wir als VdK fordern das Bundesgesundheitsministerium auf, hier nachzubessern und sicherzustellen, dass niemand gegen seinen Willen in ein Pflegeheim gehen muss.“ (…)


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