Montag, 19. August 2019

Offener Brief

Offener Brief an Matern v. Marschall (CDU) MdB

Hallo Herr v. Marschall.

Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen?

Mein Name ist Martin Schweizer. Ich bin 51 Jahre alt und in Holzhausen aufgewachsen. Dort war ich unter anderem Ortschaftsrat und Gemeinderat und als erster Nachfolger von Bernhard Gutmann zweieinhalb Jahre Ortsvorsteher. Bis ich der Liebe wegen nach Hugstetten umgezogen bin. Sollten Sie sich bei mir unsicher sein, ich bin der Mann an der Seite von Martina Schweizer geb. Graner. Ihreszeichens Ortschaftsrätin von Hugstetten (seit 25 Jahren), stellv. Ortsvorsteherin  und seit Jahrzehnten quasi Mastermind des Jugendzentrums March. Martina sollten Sie kennen.
Wir haben zwei Söhne: Lucas (12) und Simon (9), wohnen in unserem Haus mit Garten in Hugstetten, wo wir uns pudelwohl fühlen. Und wir haben nicht vor, diesen Ort Zeit unseres Lebens nochmal zu verlassen.

Begegnet sind wir uns schon des Öfteren, ohne dass wir allerdings mal miteinander geredet hätten glaube ich. Sie, der Mann mit Apfel, ich, ein Mann im Rollstuhl und mit Beatmungsmaske.
Meine Zeit in der Kommunalpolitik hat mich übrigens gelehrt, weniger auf Politiker zu schimpfen, ich will eigentlich immer zuerst von Kompetenz, Empathie und Gutem Willen der jeweiligen Person ausgehen, bevor ich lospoltere. Dieser Vorsatz wurde in den vergangenen Tagen allerdings auf eine harte Probe gestellt. Mal wieder. Leider mal wieder.


Ich weiß nicht, ob Sie die Krankheit ALS kennen?

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine Erkrankung des Nervensystems. "Innerhalb der Neurologie eine der schwersten Krankheiten überhaupt", sagt Thomas Meyer von der ALS-Ambulanz an der Charité in Berlin. Wer einmal einen Menschen mit ALS kennen gelernt habe, den lasse das so schnell nicht mehr los, meint der Forscher. Betroffen macht, mit welcher Unaufhaltsamkeit und Schwere die Symptome eintreten. Nach und nach erschlaffen alle willkürlich gesteuerten Muskeln.

Die Ursache ist ein fortschreitender Verlust von Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark, die für die Kontrolle der Muskulatur verantwortlich sind. Erhalten die Muskeln keine Impulse mehr von den Neuronen, wird Gewebe abgebaut, der Muskel wird schwächer, schwindet – er atrophiert, sagen Mediziner. Wie schnell Nerven und Muskeln abgebaut werden, ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Deshalb können keine individuellen Krankheitsprognosen gegeben werden. Die meisten leben nach der Diagnose noch drei bis fünf Jahre. Jeder zehnte Patient lebt länger als fünf Jahre, und einige wenige, wie etwa Hawking, sogar mehr als zehn Jahre.

Männer sind etwa eineinhalbmal so oft betroffen wie Frauen, bei beiden Geschlechtern macht sich die Krankheit häufig zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr bemerkbar, in jungen Jahren ist sie dagegen selten. Bei einigen Betroffenen tauchen Muskelschwund, Steifigkeit und Lähmungen zuerst in den Beinen oder Armen auf. Bei anderen beginnt es mit Problemen beim Sprechen, Kauen oder Schlucken. Bei jedem sind nach und nach alle willkürlich gesteuerten Muskeln betroffen. "Die Patienten sind nicht mehr in der Lage, über Sprache, Gestik oder Mimik mit ihrer Umgebung zu kommunizieren", sagt Albert Ludolph vom Universitätsklinikum Ulm. Im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf ist auch die Atemmuskulatur geschwächt, ein Tod durch Atemversagen kann eintreten.

Anders als früher oft angenommen, ist die Störung nicht auf das motorische System im Gehirn beschränkt: "Bei Patienten ist beispielsweise auch die Funktion des Stirnhirns und der Substantia nigra betroffen", sagt Ludolph. Die Veränderungen können sich so auch auf das Gedächtnis oder die Persönlichkeit auswirken, die Störung in der Substantia nigra erinnert an die Parkinsonkrankheit.

Und die ALS ist nicht selten. Pro 100 000 Einwohner erkranken in unseren Breitengraden laut Ludolph jedes Jahr drei Menschen. Die bedeutet, dass jeder 400. Bürger der Bundesrepublik Deutschland an ALS verstirbt.


Kennen Sie Jens Spahn?

Bestimmt. Immerhin wäre der ja beinahe Ihr Chef geworden. Chef der CDU. Der Christlich Demokratischen Union. Christlich. Hat nicht geklappt, das mit dem Chef. Ist aber ein anderes Thema.
Er bleibt als Bundesgesundheitsminister weiter in Sorge für die Gesundheit von uns allen. Zugegeben, kein einfaches Geschäft, geht’s doch nicht zuletzt auch um ganz viel Geld. Wer dieses Amt annimmt, weiß das aber. 

Gesundheitspolitik ist jetzt nicht so Ihr Spezialgebiet, wie ich Ihrer Homepage entnehmen konnte. Ist auch ok, jeder sollte das machen, was er am besten kann. Bei Jens Spahn ist das die Gesundheit. Deshalb darf er da auch Gesetze verantwortlich entwerfen und im Akkord raushauen – egal wie sinnlos oder sinnvoll - und in der Welt umher fliegen darf er, auf der Suche nach Pflegekräften.

(…) Interessant ist, dass Spahn inhaltliche Rückschläge in der öffentlichen Debatte kaum belasten. Während sich andere Politiker im Kampf um einzelne Vorschläge verhaken, perlen Niederlagen an Spahn ab. Seine Methode ist ein rhetorischer Trick. In fast jeder Rede betont er, dass er seine Vorschläge schließlich nur zur Diskussion stelle. Irgendwo, sagt er gern, müsse man ja mal anfangen, und wie genau das Gesetz am Ende aussieht, darüber könne man noch reden. In der medialen Wahrnehmung fällt es auf diese Weise auch nicht auf ihn zurück, wenn ganze Reformen wieder aus seinen Gesetzentwürfen gestrichen werden, weil der Gegenwind zu groß war. Spahns Argument zieht immer: besser als Stillstand, besser als nichts.(…)


Mein Problem kennen Sie vermutlich nicht? Wie auch?

Aktuell habe ich sogar zwei Probleme.

Erstens: Ich leide an ALS. Volles Programm. Gelähmt im Rollstuhl und seit 4 Jahren beatmet. Bin komplett auf Hilfe angewiesen, betreut von Martina, den Kindern und einem Intensivpflegedienst 23 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Das ist eine riesige Herausforderung für alle, verbunden mit ganz viel Aufwand, ohne Frage. 
Aber ich bin zuhause, kann direkt teilhaben am Leben meiner Familie, verfolge die Entwicklung meiner Kinder, tanke Kraft durch ihre Zuneigung, durch ihr für mich da sein. Unsere Familien und Freunde besuchen mich, ermöglichen Teilhabe auch außerhalb meiner 4 Wände. Auch das gibt mir Kraft. 

Die Pflegekräfte, allesamt ohne Zweifel Fachleute auf dem Gebiet der Intensivpflege, haben Zeit für meine Pflege und können auf von mir geäußerte Wünsche eingehen. Anders als im Krankenhaus, wenn Pflege Arbeit im Akkord ist. Es ist Zeit da, mit dem Patienten mal rauszugehen, mal einen Dialog mit mir oder Martina außerhalb der Krankheit zu führen. Neudeutsch ist das eine win-win-Situation, von der am Ende alle profitieren.

Mein zweites Problem schließlich: Jens Spahn.

Jens Spahn raubt mir derzeit Kraft, die ich andernorts sinnvoller einsetzen könnte und auch wollte.

Jehns Spahns Gesetzentwurf will u. a.:

„Außerklinische Intensivpflege soll in der Regel in stationären Pflegeeinrichtungen und spezialisierten Wohneinheiten erbracht werden. Auch hier gelten strenge Qualitätsstandards. In Ausnahmefällen besteht auch künftig ein Anspruch auf Intensivpflege in der eigenen Häuslichkeit, beispielsweise bei minderjährigen Kindern.“

Konsequenz für mich: Statt wie bisher in vertrauter Umgebung mit meiner Familie leben zu können, soll auch ich demnächst in einem Heim landen. Das macht mir Angst! Große Angst.

Jens Spahn würde ich gerne vorschlagen, er solle sich einmal in meine Lage versetzen: Gestraft zu sein mit ALS, gerne auch länger als auf eine Eiskübellänge. Dann stelle er sich vor, aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen und in ein Pflegeheim zwangsumgesiedelt zu werden. Ohne das, was ihm am wichtigsten ist, ohne seine Lieben. Und gewiss mit schlechterer Pflege, wenn eine Pflegekraft dann wieder für 4 Schwerstpflegebedürftige zuständig ist. 
Apropos, er solle sich mal überlegen, warum eigentlich die besten Intensivpflegekräfte den Krankenhäusern und Pflegeheimen mehr und mehr den Rücken kehren? Warum sie lieber in die 1 zu 1­-Pflege bei Pflegediensten gehen, Gehaltseinbußen eingeschlossen? Ob Jens Spahn dazu eine Idee hat? Glaubt er wirklich, die kommen alle wieder zurück, wenn Pflegedienste erfolgreich bekämpft sind? Zitat meiner Pflegerin: „Dann lieber Ikea!“
Jens Spahn macht auf mich den Eindruck des absoluten Strebers, der auch über Leichen geht. Und so hart das jetzt auch klingen mag, ich meine es genau so, wie es geschrieben ist. Einfach mal mit Beatmungspatienten reden, die heute daheim gepflegt werden, einfach  mal fragen: „Würdest du ins Heim gehen?“ Sie würden staunen, oder auch nicht, wie viele lieber tot wären.
Ich würde Ihnen antworten Herr v. Marschall: „Seien Sie heute schon ganz herzlich eingeladen zum fröhlichen Stecker ziehen an dem Tag, wenn Jens Spahn mich aus meinem Zuhause raus schmeißt. Ins Heim geh ich nicht! Und bringen Sie Herrn Spahn gerne mit!“

Meine Bitte an Sie als Mitglied von CDU-Fraktion und Bundestag, als „mein“ Vertreter in Berlin: Tun Sie etwas dafür, dass dieses menschenverachtende Gesetz so nicht verabschiedet wird. Reden Sie mit Jens Spahn, nehmen Sie Einfluss auf die handelnden Personen. Leiten Sie mein Schreiben weiter an ihn, er darf mir gerne antworten. Schriftlich, kurz per Email. Rückruf geht leider nicht. Wegen Maske und so.

Vorab danke für Ihre Mühe.
Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

Mit freundliches Grüßen
Martin Schweizer

P.S.: Mein überaus komptenter Pflegedienst ist CASA aus Freiburg-Hochdorf

Matern von Marschall (CDU) ist Mitglied des Bundestages für den Wahlkreis Freiburg. Er wohnt in meiner Heimatgemeinde im Nachbarortsteil. Wir kennen uns wenn überhaupt nur flüchtig, deshalb meine etwas längere Einleitung.

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